Samstag, 21. Mai 2011

Sophrosyne

Als wir das feinkristalline Material, das soeben in unseren gläsernen Kolben resublimiert war, mit behutsamer Neugier betrachteten, hoffend auf eine möglichst hohe Ausbeute, auf einen Schmelzpunkt, der nahe an die Werte aus der Literatur kommen und als Nachweis für hohe Reinheit des Extraktionsprodukts dienen sollte, was uns eine entsprechende Punktezahl für das Abschlussprotokoll der organisch-chemischen Übungen im dritten Semester bescheren würde, konnten wir die Bedeutung dieses Stoffes für unsere nahe und ferne Zukunft nur vage erahnen. Manche verfielen ihr schon bald danach und kamen nie wieder von ihrem Genuss los, andere benötigten zahlreiche Versuche, um nicht nur ihr Potenzial, sondern auch die damit verbundene Gefahr zu erkennen - und wieder zu vergessen. So habe ich diese Woche seit langem wieder, gezwungen, gehäuft, vermehrt, öfter als die Tugend des Maßhaltens es verlangt, auf diese Droge zurückzugreifen, damit die sich überlagernden, Aufmerksamkeit erheischenden Ansprüche eines sich in rasanter Entwicklung befindlichen Lebens vereint und harmonisiert werden können, überrascht festgestellt, wie wirkungsvoll eine konstante Dosis dieser Substanz sein kann - zumindest so lange, bis man erschöpft von Schlafmangel und Anstrengung am Ende der Woche sämtliche bereits versprochenen sozialen Verpflichtungen spontan ausfallen lässt, weil die Natur einen noch lange vor Sonnenuntergang zwingt, seine tagelange Versäumnis nachzuholen.

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