Dienstag, 22. Januar 2008

Von der Spritze zur Pfeife

Ein kurzer Stich im Deltamuskel, dann breitet sich langsam fließend eine angenehme Kühle im linken Oberarm aus. Ich blicke um mich und sehe Vertrautes: hier habe ich mich sicherlich schon ein Dutzend Male während des Wartens auf den schützenden Stich auf eine nahende Reise gefreut. Heute nicht. Heute wird eine klassische Grundimpfung aufgefrischt: Polio. Ich blättere, wie immer, in einem der Reisemagazine des Warteraums. Unzählige Photoseiten, über und über mit leuchtend-starken Farben bedruckt, tiefblau wie das Meer der Malediven, saftig-grün wie die Flora des brasilianischen Regenwalds, braunrot wie die Dünen der namibischen Wüste - und schneeweiß wie das Nichts: mein Auge starrt wie gebannt auf die wenigen Buchstaben über dem strahlend-weißen Untergrund: diesen Namen kenne ich. Neugierig lese ich, wohin es mich Ende März aus beruflichen Gründen verschlagen wird. Drei Gletscher, dreiunddreißig Lifte und Bahnen, dank Pazifiknähe milde Temperaturen, beinahe einzigartig in seinem Angebot und seiner Beliebtheit am transatlantischen Nord-Kontinent: ein Dorf, geplant von einem Norweger, designt als autofreie Fußgängerzone, Bill Gates nennt hier ein Haus sein eigen wie viele andere Berühmtheiten, ein Ort mit zehn Metern Schneefall pro Saison, gebaut, um jährlich mehr als dem hundertfachen seiner Bevölkerung ein unvergessliches Wintererlebnis mit nachhause zu geben: hier soll unsere Konferenz stattfinden.

Dienstag, 15. Januar 2008

Gemeinschaften

Es musste zwei Wohngemeinschaften und ein Jahr dauern, ehe ich erkannte, dass ich kein WG-Typ bin. Ich komme problemlos mit dem Putzplan zurecht, kaufe Sachen ein, die uns ausgehen, bemühe mich frühmorgens und spätabends nicht zu laut zu sein, aber: der WG-Vorzeigetyp zeichnet sich durch soziale Kompetenz aus. Ich bin sozial inkompetent. Wenn ich abends nach der Arbeit nachhause komme, sitzt meist mein Mitbewohner an seiner Fertigpizza in der Küche und fragt mich begeistert: Wie war dein Tag? Wie geht es dir? War es anstrengend? Wie fühlst du dich? Wird es morgen auch lange dauern? Was machst du am Wochenende? Warum gehst du heute nicht tanzen? - Es stört mich, ja, nervt mich eigentlich ungemein. Ich will ihn auch nicht einfach abschütteln, denn er meint es ja nett und ich sollte ebenfalls meinen Beitrag zum WG-Leben leisten, aber meistens will ich einfach nicht: ich bin müde und erschöpft und möchte meine Ruhe. Fragen von nahestehenden Personen stören mich überhaupt nicht, von Mitbewohnern hingegen sehr. Und sobald sich etwas Frust durchgesetzt hat, fällt es mir auch leicht, vermeintliche Fehler an anderen zu sehen. Was ist das eigentlich für ein Mensch, frage ich mich dann, arbeitet tagsüber in einer Bank, kommt nach Hause, macht sich eine Fertigpizza und hockt den Rest des Abends vor dem Bildschirm, jeden Tag. Er bekommt nie Besuch und geht etwa einmal im Monat auf eine Studentenparty von Freunden. Ich habe ihn überredet, einen Tanzkurs zu besuchen. Er möchte, dass ich mit ihm vorher die Tanzschritte übe, damit er sich nicht vor seiner Partnerin blamiert. Manchmal habe ich das Gefühl, sein Privatleben spielt sich nur in der WG ab. Wir sind seine Familie. Mit ihm rede ich über die Probleme und Reparaturen in der Wohnung, über Küchenausstattung und verstopfte Abflüsse, über meine Arbeit, über meine Hobbies, meine Herkunft, weil er danach fragt, weil er und ich zusammenleben. Er kann einen stundenlang unterhalten und erzählt sehr interessant, aber oft habe ich keine Lust, zuzuhören: ich möchte meine Ruhe. Ich bin egoistisch: kein WG-Typ. Mir gefällt das Familiengefühl nicht, das sich mir täglich hier aufdrängt, es ist das falsche.
Meine zweite Familie könnte die Arbeit sein: da, wo ich die meiste und intensivste Zeit im wachen Zustand verbringe. Es sind ganz besondere neun Kollegen, die ich habe. Sie sind offen, laut, direkt, streitsüchtig, ehrlich, provokativ, hilfsbereit, pathetisch, witzig und dynamisch. Kein Streit, der nicht durch den ganzen Raum schallt. Kein Thema, das nicht breitgetreten wird. Spannende Diskussionen während der Arbeit, die alle von ihren Plätzen weg zum Zentrum des Geschehens ziehen. Non-Stop Scherz und Jux, der manchmal zur Verletzung wird. Sie reden, streiten, lieben, hassen wie Geschwister. Am Ende kommt immer alles auf den Tisch und geht gut aus. Manche gehen regelmäßig zusammen weg, betreiben die gleichen Sportkurse, alle fahren jährlich mehrmals zusammen weg. Die Gerüchteküche brodelt ständig. Man kann sich schnell zuhause fühlen, wenn man möchte. Wir verbringen viel Zeit miteinander: der ganze Tag gehört mir und den neun Kollegen. Abends wird häufig von einem eingekauft, gemeinsam gegessen. Die Atmosphäre ist traumhaft, einsame Spitzenklasse unter meinen bisherigen Erfahrungen. Das könnte meine zweite Familie sein.
Dennoch würde ich am liebsten, eine dritte Option zum Zuhause, zur Familie machen, aber bis das möglich ist, dauert es wohl noch ein Weilchen.