Donnerstag, 30. September 2010

Der Weg in die Arbeit I

Die ersten Worte, die ich fehlerfrei auf Schwedisch auszusprechen lerne, sind die Namen der U-Bahnstationen, die ich auf dem Weg in die Arbeit passiere. Die hiesige U-Bahn entspricht mit ihren Distanzen zwischen den Stationen sowie in Hinblick auf den Grad ihrer Ausdehung in die umliegenden Vororte mehr einer österreichischen Schnellbahn als einer Stadtbahn. Das öffentliche Verkehrssystem ist teuer, aber effizient und bringt den Fahrgast mit Bahn und Bus in jede auch noch so entlegene Ecke des Stadtgebiets. Für die Zimmerbesichtigungen des letzten Eintrages 10-20 km in den Norden oder Süden habe ich jeweils nur einen einzigen Fahrschein ohne Zusatzzonen benutzen müssen.
Um von meiner September-Unterkunft in die Arbeit zu kommen, muss ich knapp 30 Minuten mit der hiesigen U-Bahn fahren, dabei passieren wir mit meiner Linie vierzehn Stationen und schon bei der ersten Fahrt zu Stoßzeiten ergibt sich ein interessantes Bild hinsichtlich der Anzahl der ein- und aussteigenden Fahrgäste.



(Ein Punkt in der Graphik entspricht in etwa 2-3 Passagieren, die die mir am nächsten liegende Wagentür benützen.)

Kurz: ein klassischer Pendlerzug, in den Vororten überwiegt die Anzahl der zusteigenden Passagiere, während am Ende meiner Fahrt mehr Leute aussteigen als einsteigen. Prinzipiell sind die Waggons bis zur Station Slussen gerammelt voll, danach kann man freier atmen.

Sonntag, 19. September 2010

Rum uthyres

Die Wege zu einem eigenen Heim können mitunter vor Stolpersteinen wimmeln. Hindernisse sind besonders groß, wenn es darum geht, in "the capital of Scandinavia" eine Unterkunft zu finden. 3 Monate vor meiner geplanten Abreise habe ich mich bemüht, aus der Ferne interessante Wohnräume für mich zu interessieren. Ein einziges, riesiges Schweigen beantwortete die über 50 Emails, die ich an potenzielle Unterkunftsgeber schickte. 50 Annoncen, die auf deutsch übersetzt werden mussten, 50 Stadtplanbefragungen, 50 Verkehrsmittelanfragen und 50 Übersetzungen meiner individuellen Vorstellung in die Landessprache, doch niemand fühlte sich dazu bemüßigt, zu antworten. Bewerbungen für Studentenheime und institutseigene Unterkünfte schienen genauso in die Leere zu laufen. 2 Monate später der geniale Plan: eine vor-Ort-Suche muss mein Problem lösen können. Aber es bleibt weiterhin schwierig, neue Emailanfragen bleiben unbeeindruckt unbeantwortet, obwohl ich eine schwedische Telephonnummer mitschicke und anbiete, jederzeit persönlich zu beweisen, dass ich existiere und durchaus seriös wirke.
Und dann - ein Lichtblick: ich besuche die Wohnung eines Medizinerpärchens, das 15 km nördlich des Stadtgebiets eine WG für 4 Personen besitzt. Sie finden mich sympathisch, würden mich auf der Stelle akzeptieren, doch ich bin skeptisch: das kleine, möblierte Zimmer ist für die ungünstige Lage teuer, das Pärchen ist mir ein wenig zu pedantisch und wirkt verzweifelt, der Mietblock ist veraltet. Ich sage ab.
Kurz danach ein zweiter Lichtblick: diesmal reise ich in ein Gebiet 10 km südlich der Stadt und besichtige die Wohnung einer dreiköpfigen Familie, sie Schwedin, er Nigerianer, das Baby gemischt. Wiederum das gleiche: die Schwedin wirkt verzweifelt in ihrer Suche und würde mich sofort nehmen, das Zimmer ist klein und besitzt nur eine Ausziehcouch, die Wohnung ist eng, dichtgedrängt und wirkt nicht, als würde sie einen weiteren Mitbewohner vertragen. Als ich dann noch erfahre, dass das zu vermietende Zimmer eigentlich dem Stiefsohn gehört, der normalerweise am Wochenende hier schläft, aber ins Wohnzimmer umquartiert werden soll, als ich danach weiters erfahre, dass meine Miete für das Zimmer den 3-4-Personen-Haushalt über Wasser halten soll, da sie in Karenz und er arbeitslos ist, verziehe ich mich schnell wieder.
Wie im Glück folgt schon die nächste Besichtigung: es verschlägt mich wieder einmal ins Umland der Stadt, 25 km südöstlich in eine Ansammlung an Mietblöcken mit Balkonen. Der Besitzer der Wohnung ist Spanier, die anderen Parteien im Haus ebenso, in der Wohnung leben ein kubanisches Pärchen, schwanger, und ein weiterer Mann über dessen Identität, Herkunft und Beruf nichts bekannt ist, da er sich kaum zuhause zeigt. Das Zimmer ist sehr nett, mit Balkon und neu möbliert, Platzmangel gibt es keinen, vergleichsweise günstig fällt die Miete aus und der Spanier ist begeistert, dass ich a) kein Mann bin b) ganz ordentlich (nicht betrunken oder unter Drogen) aussehe und auch noch relativ lang bleiben wollen würde: ich kann sofort einziehen. Ich winke ab und sage, ich muss es mir noch überlegen, 25 km vom Stadtzentrum entfernt ist eine gewaltige Strecke für tägliches Pendeln (Bus-Bahn-Bus).
Ich muss fast eine telephonische Niederlage erleiden, als ich mich für ein Zimmer mitten im Stadtzentrum, keine fünf Busminuten von meiner Arbeitsstelle entfernt, bewerbe, denn gerade diese Angebote sind beliebt, mit bis zu hundert Anrufen pro Tag und ich melde mich erst Tage nach ihrer Veröffentlichung. Doch als ich erwähne, an welchem renommierten Institut ich arbeiten werde, wird die Vermieterin hellhörig und lädt mich ein. Die Wohnung ist perfekt gelegen, das erste Mal sehe ich einen Bäcker, einen Supermarkt in Gehweite, die öffentliche Anbindung ist ideal. Das Interesse hält sich weiter, als ich das Zimmer sehe: mit französischem Balkon, sicher 20 qm, hell, möbliert. Die Miete ist selbstverständlich den Standards der Innenstadt entsprechend angemessen hoch, aber noch im tolerierbaren Bereich. Einen gewaltigen Umschwung erfährt meine Begeisterung jedoch, als ich die unsichtbaren Eigenschaften des Zimmers erfahre: kein Internetanschluss, keine neuen Möbel erlaubt, keine Gäste gestattet und absolute Ruhe erforderlich, denn die Besitzerin, eine frisch-geschiedene Endfünfzigerin, studiert Theologie und benötigt demnach Stille in der Wohnung, erschwert ist dies insofern, als dass das Fehlen einer Zimmertür lediglich durch einen Stoffvorhang kompensiert wurde. Ich gestehe, es mir aufgrund der restriktiven Bedingungen noch etwas überlegen zu wollen, auch sie wirkt wegen meines Vorsatzes, Gäste einzuladen, etwas abgeschreckt, und freundlich wird sich wieder verabschiedet.
Um der lästigen Geschichte ein Ende zu bereiten: ich habe mich schlussendlich für eine Wohnung entschieden, die ich nach dem Spanier besichtigte. Lange zweifelte ich wegen der großen Distanz zum Stadtgebiet, doch mangels anderer Alternativen und auch weil bis auf die Lage alles in Ordnung scheint, entschloss ich mich, zu einer japanischen Familie zu ziehen. Sie wohnt in einem Einfamilienhaus in einer Siedlung, die nach Aussage der Mutter ganz dem Motto Schwedens "land of lakes and forests" entspricht, rundherum grün, praktisch keine Autos, die nächste Busstation ist 5, der nächste Regionalzug 20 Gehminuten entfernt, der Winter sei aber kein richtiger, gerade mal 50 cm Schnee brächte er in dieser Gegend zustande. Es ist ein großes Zimmer, das Zimmer des ältesten Sohnes, der für ein Kunststudium in die Vereinigten Staaten gezogen ist, voll möbliert und Bettüberzüge inklusive, wie auch im Rest des Hauses wimmelt es vor lauter Bücherregalen (in meinem Zimmer aber natürlich leer), die Leselust der 3 Kinder sei vom in einem Nachbarland akademisch tätigen Vater herrührend, die Wände der Gänge zieren zahlreiche Kalligraphien von Mutter und Kindern, die neujährlich ihre Wünsche und Vorsätze mit Tinte auf dünnes Papier malen. Die Kinder spielen Musikinstrumente, sind halb-japanisch und halb-europäisch, folgsam, aber aufgeweckt und sprechen fließend Japanisch, Schwedisch und Englisch. Frühstück (Misosuppe, Reis mit Gemüse) und Abendessen ist im Mietpreis inkludiert, falls ich vor dem Frühstück in die Arbeit aufbreche, bekomme ich für den "Schulweg" Sandwiches von der Mutter geschmiert, falls ich abends zu spät nachhause komme, werde ich einen für mich bestimmten, kalt gestellten Teller mit Abendessen vorfinden. Die Mutter unterrichtet Vollzeit Japanisch auf einem Gymnasium, ihre Zutatenliste für Kochrezepte ignoriert Fleisch, Eier oder Milch und besteht ausschließlich aus Bio-Lebensmitteln, die ihr monatlich in 10-25kg-Säcken vor die Haustür geliefert werden. Als ich zur Besichtigung kam, war gerade Liefertag und der Vorratsraum platzte fast vor lauter Säcken mit Zwiebeln, Kartoffeln, Rüben und anderen Wurzeln, Kisten mit Äpfeln, Tüten mit mir fremdem Grünzeug. Während sie mir koffeinfreien, japanischen Tee sowie selbstgebackene Getreide-Apfel-Taler anbot, informierte sie mich, dass sie Verständnis dafür habe, wenn ihre Untermieter des japanischen Frühstücks ungewohnt sich lieber Marmelade und Brot wünschen. Für einen französischen Studenten, der morgens nur Süßes essen wollte, kaufte sie also Äpfel und Erdbeeren, um Marmelade zu kochen. Brot gäbe es ohnehin jede Woche frisches, da sie regelmäßig 100%-iges Roggenbrot bäckt, wofür sie ausschließlich noch warmes Mehl, weil frisch und selbstgemahlen, verwendet. Wenn es nach ihr ginge, könnte ich meine nächsten 4-5 Jahre in Schweden bei ihr wohnen. Auf in das japanisch-schwedische Abenteuer!