Heilsbringer
Jene Menschen, die auf der anderen Seite einer meiner Zimmerwände wohnen, besitzen ein wenig wünschenswertes Charakteristikum, und das sieht vermutlich ungefähr wie eines dieser Exemplare aus. Niedlich, putzig, knuddelig und liebenswert vom optischen Standpunkt aus - der mir verwehrt bleibt. Ich hingegen vernehme leider hauptsächlich akustische Indizien für dessen Präsenz. Und zwar von 6:30-08:00 morgens, dann verlasse ich die Wohnung; wenn ich abends wiederkomme, wirkt das quälende Quäken ununterbrochen weiter bis ca. 23:00. Mit Glück ist danach Schluss bis kurz nach Mitternacht. Meckern und keppeln scheint die Hauptbeschäftigung dieser Objekte zu sein, gleichzeitig will sich offenbar niemand darum kümmern, der Geräuschbelästigung ein Ende zu setzen. Nichts gegen das jüngste Mitglied in meiner Arbeitsgruppe: 4 Monate und ein Bündel Wonne, zumindest wenn man Vater dabei beobachtet, wie er seine Tochter in die Arme schließt, sooft Mutter damit zu Besuch kommt; sein strahlender Blick, den er im Produkt ihrer gemeinsamen Liebe vergräbt, die Behutsamkeit, mit der er ihre Haube zurechtzupft, die Begeisterung, die aus seinen Augen spricht, wenn sie sein Lächeln erwidert: als wäre sie das größte Wunder, das ihm je passiert wäre. Darf ich auch mal halten, geht der Spruch dann reihum, und klar, jeder darf mal, man ist ja stolz auf das kleine bisschen Glück, das einem in die Wiege gelegt wurde. Als das lebende Etwas in meine Nähe kommt, wehre ich ab: nein, danke, ich lasse es sicher fallen, macht mal weiter, und schon verzieht das nächste Frauengesicht all seine Gesichtsmuskeln zu Fratzen, nur um dem Kind ein kicherndes Lachen zu entlocken, das nie endend scheint. Mobiltelefone klicken, jeder möchte ein Photo von sich mit Baby, für die eigenen Eltern, kindertauglich, das wollen die Damen von heute trotz aller Emanzipation sein, und die Fähigkeit, ein fremdes Kind zu halten, scheint dafür zu qualifizieren. Kinder sind eine dankbare Gabe Adebars, zumindest solange sie noch so klein sind und sich nicht wehren können. Wir lieben sie alle und jeder möchte eines davon zuhause (alternativ eine Babykatze, falls der Partner nicht so schnell mitmacht). Kollegin A ist schwanger, spät ist sie dran, ihrer Aussage nach, eine Risikoschwangerschaft mit Mitte 30, das zweite Kind, nur eines wollen die wenigsten, wieder ein Junge, stolz streicht sie über den Bauch, in dem seit 4 Monaten ein Keim heranwächst, stolz streichelt sie den Bauch, ununterbrochen, wenn sie nicht gerade am Computer tippt; die Gespräche zwischen den Eltern rotieren immer um die gleichen Themen: erforderliche und abzulehnende Schutzimpfungen, die Vorstellungen des Vaters über die Berufsmöglichkeiten der Tochter (Balletttänzerin), Babykleidung (Kleidchen sind sooo süüüß), EGT & KS, Schnuller, Abpumpen, Zufütterzeitpunkt und Exkrementfarbschattierungen. Immer öfter bezweifle ich, dass mein Erbgut einen Abschnitt für jene Gene besitzt, die zu vergleichbaren prä- und postnatalen Hormonausschüttungen mit derart von normalem Verhalten abweichenden Konsequenzen führen.
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