Schein und Sein
"Müllsäcke, Spülschwämme, WC-Ente, Reinigungsmittel" sagt meine Einkaufsliste am Tag nach meinem ersten, nur teilweise gelungenen Versuch, in der neuen WG die Küche zu benutzen und das Bad zu putzen, nachdem erstere schon seit mehreren Tagen ausgegangen waren, aber niemand sich bemüßigt gefühlt hatte, für Nachschub zu sorgen. Noch bei der Besichtigung der Wohnstätte hatte zu positiver Überraschung der Blick ins separate WC sowie Badezimmer geführt: tatsächlich, hier wohnt mindestens ein mitdenkendes Mädchen (erkennbar an vorhandenen Mistkübeln, eine Seltenheit in den meisten Haushalten); die Ernüchterung folgte nach meinem Einzug bei genauerer Inspizienz: Mistkübel ja, Müllsack negativ. Wer sich wöchentlich um die Entleerung dieser kümmern muss, hat vermutlich seine helle Freude an feuchtem und trockenem Abfall, der die Wände des Metallbehälters dekoriert. Gemessen an der Größe des Glasflaschenhaufens in der Küche und der daraus deduzierten Frequenz, mit der dieser aus der Wohnung in die Entsorgungsanlage wandert (halbjährlich?), würde es mich allerdings wenig wundern, wenn auch diese beiden Mistkübel seit der Gründung der WG vor einem Jahr bisher nur eine Handvoll Male entleert wurden. Auf der erfolglosen Suche nach Reinigungsmittel fand ich im hintersten Winkel eines Schrankes eine verschlossene und mit Frischhaltefolie dick umwickelte Plastikschachtel, in der sich offensichtlich schon leicht fermentiertes Reisfleisch mit Erbsen befand, einer ersten Vermutung nach für Kriegszeiten gebunkert, konnte sich dies jedoch bei Nachfrage nicht bestätigen lassen ("oh, wo hast du das gefunden"). Dabei sehen die Damen und Herren Mitbewohner eigentlich recht ordentlich aus. Er, blond und blass, jung an Jahren, doch schon Künstler und Designer, mit Geschmack für Formen und Farben dekorieren seine Werke bunt die weißen Wände, ein Koch aus Passion, freundlich und herzlich, versehen mit liebenswerter Gedankenlosigkeit, lässig, doch nie nachlässig gekleidet. Sie, schlank und hochgewachsen, gleichmäßig gebräunte, glatte Haut, ein beinahe bronzener Teint, täglich wechselnder Halsschmuck, sanft-fließende Bewegungen der Gliedmaßen, am Kopf etwas, das man durchaus als Frisur bezeichnen könnte: nichts lässt darauf schließen, dass das aufmerksam und bedacht wirkende Fräulein hinter verschlossenen Türen ihres Heims mit Unterstützung ihres Bettgenossen die ärgsten Angewohnheiten bzw. Keine-Gewohnheiten an den Tag legt. Wie kommt es zu dieser Dissonanz? Kümmern wir uns nur darum, wie wir äußerlich auf andere wirken? Lassen wir uns von unserer eigenen Oberflächlichkeit betören, die uns vorspiegelt, äußere Sauberkeit und Ordentlichkeit wären imstande, Sorglosig- und Nachlässigkeit im Haushalt zu verschleiern oder gar zu übertünchen? Würde man nicht erwarten, dass ich mit gleicher Sorgfalt mein Gesicht pflege und das Klo putze? Ist es zuviel verlangt, zu erwarten, dass ein tadelloser Kleidungsstil mit einem Grundverständnis für Sauberkeit (nicht Sterilität) einhergeht? Offenbar.
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