Donnerstag, 17. Juli 2008

Wie man sich irrt

Es ist ganz einfach.
Man studiert fünf Jahre lang unentschlossen ein Fach. Im sechsten, dem der Diplomarbeit gewidmeten, schließt man mit sich selbst einen Pakt: in diesem Jahr soll sich zeigen, wie sehr man für das Fach geeignet ist. Man plant alle mögliche Zeit und Energie hineininvestieren, um sein Projekt zur Blüte zu zwingen. Man möchte frustrierende Rückschläge genauso erfahren wie glückbringende Erfolgserlebnisse. Am Ende will man zurückblicken können und entscheiden, ob es einem Wert war. Man unterschreibt den Vertrag. Man beginnt. Es fängt gut an: es gibt einiges zu tun, die Kollegen sind nett. Das erste Projekt scheitert. Aber es macht nichts; es gibt ein anderes Projekt, die Kollegen sind nett. Das zweite Projekt scheitert. Aber das macht nichts: man muss ohnehin ein Manuskript verfassen und die Kollegen sind nett. Denkt man. Und dann irrt man sich.
Ganz am Anfang war es nur eine. Sie weigerte sich strikt, mit mir zu sprechen oder mich zu grüßen, auch wenn ich sie grüßte. Ich war verwirrt: hatte ich ihr etwas getan, woran ich mich nicht erinnerte? Eigentlich fand ich sie ja sehr nett: hübsch und herzig, ausgesprochen fleißig, mit einem charmanten Dialekt und einem spitzfindigen Geist. Ich fragte die anderen um Rat. Sie beruhigten mich: am Anfang ist sie immer so, keine Sorge, das gibt sich. Ich versuchte, optimistisch zu sein und grüßte weiter. Manchmal grüßte sie zurück, ab und zu korrigierte sich mich beim Arbeiten. Wir unterhielten uns nie. Ich versuchte, es zu ignorieren. Stattdessen bemühte ich mich, die anderen kennenzulernen. Es fiel schwer. Immer musste ich Fragen stellen. Niemand fragte mich, wie es mir geht. Ich fragte nach ihren Geschwistern, nach ihren Hobbies, nach ihren Wohnsituationen, nach ihrer Heimat. Niemand fragte, was ich sonst noch tue, außer zu arbeiten. Ich bekam das Gefühl, in dieser Arbeit keine Seelenverwandten finden zu können. Nicht dass es nötig wäre, aber eine Option wäre es gewesen. Man kann ja auch einfach Kollegen sein, überzeugte ich mich. Dann erfuhr ich, dass an einem vorherigen Tag eine Einweihungsfeier einer Wohnung stattgefunden hatte, zu der die ganze Arbeitsgruppe eingeladen worden war. Die Gastgeberin war jene, die mich von Anfang an ignorierte, also dachte ich mir nicht viel dabei, dass ich davon nichts gewusst hatte. Morgen findet die Einweihungsfeier einer anderen Kollegin statt. Sie hat die gesamte Arbeitsgruppe, inklusive dem Frischling, und noch andere Kollegen der Firma eingeladen. In der Arbeit sprechen sie immer wieder über die Gästeliste und mitzubringende Delikatessen. Ich sitze daneben und frage mich: bin ich tatsächlich so abscheulich, dass ich genauso wenig erwünscht bin wie der Chef? Wahrscheinlich. Seit zwei Wochen gehe ich wie ein Geist ein und aus. Niemand registriert mich, niemand fragt mich etwas, niemand spricht mit mir. Niemand grüßt mich, außer wenn ich zuerst grüße, und dann grüßen auch nur wenige zurück. Beim Verabschieden das gleiche. Es ist, als liefe das Leben rund um mich herum ab und ich wäre lediglich ein Schatten meiner selbst, den niemand sehen kann. Nur über mich sprechen tun sie in meiner Anwesenheit (noch) nicht. Aber ansonsten komme ich mir vor, als wäre ich nicht da.
Inzwischen bin ich mit mir im Reinen, dass ich ihre Freundschaft oder ihre Worte nicht benötige. So gelingt es mir, die Situation mit interessierter Verwunderung zu betrachten, ohne mich verletzt zu fühlen. Vielleicht bin ich auch viel zu überrascht, als dass ich gekränkt sein könnte: denn üblicherweise werde ich eher als eine neutrale Person wahrgenommen; also weder als eine besonders liebenswerte, noch als eine verabscheuungswürdige. Eventuell bin ich gerade deswegen im Niemandsland der zwischenmenschlichen Beziehungen gelandet, wo mich keiner sehen kann.

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