Samstag, 6. November 2010

Gedenken und Andenken

Überlässt man eigentlich älteren Personen im Bus den Sitzplatz, fragte ich mich seit Anbeginn meiner Zeit hier. Täglich, morgens auf dem Weg zur Arbeit, stellte ich mir diese Frage. Doch im Bus fanden sich stets zahlreiche Kinderwägen, Kinder, junge Menschen, ältere Menschen wie ich und noch etwas ältere Menschen, aber keine, die gebrechlich genug wirkten, um ihnen einen Sitzplatz anbieten zu wollen. Gibt es überhaupt ältere Leute? Verlassen sie das Haus nie? Fahren sie nicht Bus? Oder nur nicht tagsüber? Fast zwei Monate lang blieben diese Fragen unbeantwortet. Als ich mich jedoch heute Vormittag auf den Weg in die Arbeit machte, war der sonst nur mäßig gefüllte Bus dichtgepackt mit zweierlei: Senioren und Tannenzweigen. Denn heute ist Alla Helgons Dag, Allerheiligentag, und mein Bus fährt nicht nur zu meinem Institut, sondern auch zum dazugehörigen Krankenhaus sowie zum benachbarten Friedhof, der die Hauptbegrabungsstätte der Stadt darstellt. Wie zuvor angekündigt bewegten sich am heutigen Tag unglaubliche Menschenmassen durch die Stadt, morgens ältere, nachmittags jüngere, und zwar in derartigen Dimensionen, dass es jährlich zu Verkehrsstaus und Sardinenbüchsen-artigen U-Bahnfahrten kommt. Jeder ist auf den Beinen, jeder gedenkt an diesem Tag seiner Lieben und/oder Verstorbenen, jeder hat Blumen, Kerzen oder Zweige in der einen, Kinder oder Partner in der anderen Hand. Dem allgemeinen Trend folgend beschloss ich ebenfalls einen Friedhof aufzusuchen und wählte das UNESCO Weltkulturerbe "Skogskyrkogården" im Süden der Stadt, ganz nahe dem Ort, wo ich im September gewohnt habe. Gemeinsam mit einer thailändischen Kollegin froren wir uns drei Stunden durch das großzügige Areal, besichtigten bei eisblauem Himmel und sinkender Sonne Meditationsplätze, Gedenkstätten und Kapellen, nach Sonnenuntergang dann Paare, Familien und Alleinstehende, die zu den hunderten Kerzen an Grabsteinen zu Füßen dichter Nadelbäume weitere hinzufügten. Wir wurden kontemplativ und sie, die von zuhause keine Friedhöfe kennt, weil Menschen verbrannt und ihre Asche in alle Winde zerstreut wird, stellte fest, dass der Anblick der Grabsteine uns daran erinnert, wie wenig Zeit wir haben, um all die Dinge zu tun, die uns glücklich machen.



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