... bis dass der Tod
Abgelegen, am Rande der Stadt, 55B fährt selten, aber doch in die Nähe und lässt den neugierigen Besucher auf Schusters Rappen die letzten hundert Meter eine Anhöhe hinaufspazieren zum großen Haupteingang. Schreitet er durch das Tor, erblickt er links die übliche Halle, während sich frontal und rechts über einen sanft ansteigenden Hügel die einzelnen Denkmäler in ordentlich geformten Linien aneinanderreihen. Es ist ein spätsommerlicher Tag zu einer frühen Nachmittagsstunde, als der Besucher voller Demut und Respekt seine Schritte über den teils sandigen, teils gepflasterten Boden des Friedhofs lenkt. Die Sonne leuchtet vom blauen Himmel herab und bringt das Grün der Gräser, das Rot, Gelb und Violett des Grabschmuckes zum Strahlen als sei dies ein Festtag. Vereinzelt sieht er andere Menschen Gartenarbeit verrichten, genügsam tragen sie Schnittblumen und Kerzen herum, zupfen herabgefallenes Laub von Moosteppichen oder kehren Kiesel von Steinplatten; alle sind beschäftigt mit dem Hegen und Pflegen der Bedürfnisse ihrer Liebsten, nur unser Besucher verfolgt einen Selbstzweck; er sucht kein verwandtes Grab und trachtet auch nicht danach, für eines zu sorgen. Er steigt die steinernen Stufen entlang von Grabstätten hinauf, wo ein kleines Wäldchen am Ende des Friedhofs seinen Schatten auf die am nächsten gelegenen Grabsteine wirft, und wendet sich mit einem Male um, sodass sein Blick hangabwärts fällt. Vor ihm senkt sich der Hügel hinab in ein Tal, das erfüllt ist von seiner Heimatstadt, und augenblicklich durchdringt ihn in einem einzigen Moment alles gleichzeitig: Die Trauer über Verlorenes, das Bedauern über Verstorbene, das Glück für die hier Ruhenden, die an einem solch schönen Ort begraben sind, das Mitleid, dass all jene nie sehen werden, was er gerade wahrnimmt, die Verwunderung über das Wesen des Lebens, welches jedem Menschen nur einen bestimmten, kurzen Abschnitt im Wandel der Zeit gewährt, und alles, was er nicht in dieser Periode erlebt, ist auf ewig für ihn verloren und vergangen, die Freude, in diesem bedeutenden Moment anwesend zu sein und ihn in sich aufzunehmen, vollends genießen zu können - all das vereinigt sich für einen Augenblick im Herzen des Besuchers und aus Verzweiflung über seine innere Zerrissenheit, welchem der Gefühle er sich hingeben soll, setzt er sich auf die Stufe, die er eben noch mit seinen Füßen gedankenlos betreten hatte, um hinaufzusteigen, schließt die Augen und senkt sein Haupt in die willig diesen aufnehmenden Hände. Es sind nach einer kurzen Weile die Töne, die ihn zurückholen in die Wirklichkeit, ein fröhliches Vogelzwitschern, das aus dem Wäldchen kommt, er hebt seinen Blick aus den Händen, in welchen er sein Glück, seinen Schmerz gleichsam doch vergeblich versenken wollte, und blickt ein wiederholtes Mal ins Tal: Ein Ort, so friedlich und berührend wie dieser, war ihm noch nie zuvor begegnet, der ihm nahe ging wie damals zu jener Stunde.
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