Donnerstag, 2. Dezember 2010

Selbstwahrnehmung und Sündenböcke

Es ist eine Kunst, sich selbst mit den Augen eines anderen zu betrachten. Meine japanische Gastmutter beherrscht diese Fähigkeit leider zur Gänze nicht. Sehen wir uns mal folgendes Beispiel an:


Wir betrachten ein Vorzimmer, das seit 1,5 Tagen nicht verändert wurde. Jemand kam nachhause, warf seine Siebensachen wortwörtlich von sich und ging computerspielen, essen, schlafen, was auch immer. Die übrige Hausbevölkerung kümmert der seitdem unveränderte Zustand nur wenig. Dass sich ein Teil der Kleidung vor dem Eingang ins WC (links) befindet und somit das Türöffnen erschwert, scheint auch nur mich zu stören. Setzen wir dies in Kontrast zu den Gesprächen, die ich etwa einmal die Woche am Abendtisch mit der Mutter führe. Hierbei geht es meistens um Benehmen, Verhalten und Gewohnheiten. Sie ist offenbar der Meinung, dass ich relativ gut erzogen bin und setzt dies in Gegensatz zu Menschen, die a) bei Tisch nicht mit jemandem reden, b) keinen Kommentar zur Güte des Essens abgeben, c) sich nicht für Essen bedanken, d) vom Tisch aufstehen, ehe die anderen fertiggegessen haben, e) Energieverschwendung betreiben, indem sie die Heizung nie ausschalten, f) das Badezimmer in unordentlichem Zustand hinterlassen, g) ihre Kleidung auf dem Boden verteilen, statt sie ordentlich aufzuhängen, h) Dreck hinterlassen, den sie nicht wegräumen, i) Klopapier unkoordiniert auf den Boden werfen. Im Falle von a) - f) beschwert sie sich eindeutig über die andere, 16-jährige, schwedische Untermieterin, die Kritik in g) - i) trifft ihre schwedischen Schüler am Gymnasium, wo sie unterrichtet, während ich bei a), d) sowie f) - i) eher an sie bzw. ihre Kinder gedacht hätte. Wenn ich sie darauf anspreche, z.B. dass ihre Kinder vom Tisch aufstehen, sobald sie das Essen verschlungen haben, dann schüttelt sie mit krauser Stirn den Kopf und schiebt alles auf den schwedischen Ex-Mann und Vater, der gegen Tischmanieren und Kindererziehung gewesen sein soll, sowie angeblich alle Schweden keine großen Anhänger davon sind. Jeder mag das folgende gemäß seinen eigenen Einstellungen beurteilen: auch wenn der jüngste Sohn äußerlich behindert wirkt, deutet für mich persönlich (!) die Tatsache, dass er einwandfrei sportlichen Wettbewerben nachgehen, Schwedisch, Japanisch und Englisch sprechen sowie lesen und Blockflöte spielen kann, darauf hin, dass es durchaus möglich ist, ihm beizubringen, Nahrung eine Spur eleganter in den Mund zu schaufeln, beim Kauen den Mund zu schließen und einen gewissen Geräuschpegel dabei einzuhalten. Die Mutter sieht die Probleme, schiebt sie aber auf den Vater: er legte keinen Wert darauf, so wie alle Schweden, und sie muss nun damit umgehen.
Einmal erklärte ich ihr nach einem Spieleabend und ihrer Nachfrage, was wir denn die ganze Zeit getrieben hätten, die Idee von Brett- und Gesellschaftsspielen; das Konzept war ihr unbekannt, gefiel ihr aber sofort: nicht am Computer, sozial, kreativ, interaktiv, unterhaltsam. Nur leider habe sie dafür keine Zeit mit ihren Kindern, da sie so sehr mit dem Haushalt, dem Waschen und Putzen beschäftigt sei, Kinder sind nun einmal aufwändig. Ich stimme ihr im letzten Punkt zu, allerdings ist es äußerst bedauerlich, dass ich in den zwei Monaten Untermiete bei ihr nie den Teil des Hauses zu Gesicht bekommen habe, den sie angeblich sauberhält.

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